Neue Einsichten in Nahkampfsituationen – und einige Empfehlungen für das Selbstverteidigungstraining

„Schildern Sie Ihre Erfahrungen von Einsatzsituationen, in denen Sie von Nahkampftechniken Gebrauch machen mussten!“

In einer kürzlich erschienenen Studie, welche an der US Military Academy in West Point durchgeführt wurde, taten 17 Soldaten genau das: Sie teilten Ihre persönlichen Erfahrungen in teils tödlichen Auseinandersetzungen (ohne Schusswaffe) einer Forschergruppe mit. Diese qualitative Studie ist die erste Ihrer Art und ermöglicht Trainern, welche sich mit dem Thema Selbstverteidigung und Nahkampf beschäftigen, einen Blick auf relevante Faktoren körperlicher Konfliktsituationen. Daraus lassen sich Schlussfolgerungen für den Trainingsprozess im Bereich der Selbstverteidigung ziehen.

Die Teilnehmergruppe bestand zum größten Teil aus Angehörigen von Spezialeinheiten (’special forces‘; siehe Tabelle 1).

 

Demograhpische Daten der Teilnehmer der Studie (N = 17) von Jensen et al. (2014,), S. 410

Die Forscher analysierten die Interviews, um neue Einsichten zu Optimierungsmöglichkeiten im Nahkampf- und Selbstverteidigungstraining zu erhalten. Die Ergebnisse zeigen, welche Aspekte wichtig sind, um Trainingsumgebungen repräsentativer (gefällt mir besser als „realitätsnäher“) zu gestalten.

Als Themen identfizierten die Forscher (siehe Tabelle 2):

  • die „unmittelbare Gefahr“: überrascht von einem Angriff, ohne Vorwarnung
  • den „Schalter umlegen“: Aggressiv von 0 auf 100
  • die „Schnelligkeit der Auseinandersetzung“: kaum begonnen, war es auch schon vorbei
  • die „Adrenalinausschüttung“: während der Auseinandersetzung „auf 180“, danach ausgelaugt
Benannte Tehmen der Teilnehmer in der Studie von Jensen et al. (2014), S. 412

 

Die Wissenschaftler empfehlen unbewusst abrufbare, problem-orientierte Bewältigungsstrategien und „Fighting Skills“ auszubilden, um den Belastungen und den Anforderungen in Nahkampfsituationen gerecht zu werden. Hierfür geben die Autoren folgende Hinweise:

  • Dem Teilnehmer sollte ermöglicht werden, (a) dass er unterschiedliche Reize erkennen und wahrnehmen kann und (b) angepasste (adaptive) Variationen von  Techniken in unterschiedlichsten Situationen ausführen darf.
  • Nahkampftraining sollte psychologische Aspekte wie die Kontrolle von Erregung (‚arousal managament‘) und die Kontrolle von Emotionen (‚controlling emitions‘) beeinhalten.
  • Simulationen oder Szenarientrainings im Bereich des Nahkampftrainings sollten kontext-spezifische Reize beeinhalten, wie sie auch im „Ernstfall“ anzutreffen sind (z.B. den Schutz einer dritten Person, zu erfüllende Aufträge im behördlichen oder militiärischen Bereich, etc.)

Die Ergebnisse der Studie zeigen auch, dass Selbstverteidigungstraining die nachfolgenden Aspekte berücksichtigen sollte:

  • Überraschungen trainieren: der Teilnehmer muss sich überraschen lassen, z.B. durch Übungsformen, in denen der Teilnehmer die Augen geschlossen hat und vom Angriff überrascht wird.
  • Den „Schalter umlegen“: der Teilnehmer muss lernen „den Schalter umzulegen“ und innerhalb weniger Millisekunden von „lieb“ zu „hoch aggressiv“ umzuschalten.
  • Angriffs- oder Verteidigungskombinationen (für gefährliche Angriffe) sollten schnell und hoch-aggressiv sein: „be fast & furios“

Alles in allem ermöglichen die Erkenntnisse von Jensen et al. (2014) das Selbstverteidigungstraining wieder ein wenig fundierter zu gestalten. Viel Spaß dabei!
Jensen, P. R., & Wrisberg, C. A. (2014). Performance under acute stress: A qualitative study of soldiers’ experiences of hand-to-hand combat. International Journal of Stress Management, 21(4), 406–423.