Die Geschichte des Krav Maga nahm ihren Anfang in den Überlegungen von Moshe Feldenkrais in den 1920er Jahren, als er ein Konzept für Selbstverteidigung entwickelte (Mor, 2018). Dieses Konzept erregte die Aufmerksamkeit der paramilitärischen Hagana, die ihn für eine dreijährige Periode zum Training ihrer Mitglieder verpflichtete. Eines dieser Hagana-Mitglieder war Mashwe Bashe-Dinam, der durch zwei Dinge auffiel: seine erstaunliche Kampfkompetenz trotz seiner vergleichsweise kleinen Statur und sein unbeugsamer Wille. Bashe-Dinam wich vor keiner Gefahr zurück, auch wenn er unterlegen schien. Ein Vorfall, der von Augenzeugen dokumentiert wurde, veranschaulicht dies:
Bashe-Dinam war nicht an Ruhm interessiert und prahlte nie mit seinen Fähigkeiten vor anderen Menschen. Dennoch existieren ein oder zwei interessante Geschichten über ihn, die möglicherweise von Augenzeugen, vielleicht etwas übertrieben, berichtet wurden. Bei einem Straßenfest fand ein Umzug statt, bei dem so viele Menschen anwesend waren, dass die Straßen verstopft waren. Auch Bashe-Dinam beobachtete den Umzug zusammen mit einigen jungen Damen. Nicht weit von ihnen entfernt stand ein Soldat. Bashe-Dinam missfiel, wie der Soldat sich den jungen Frauen gegenüber verhielt, sie beleidigte und sich ihnen in beleidigender Weise näherte. Bashe-Dinam rügte ihn daher wegen seines schlechten Benehmens, was zu einer lauten Auseinandersetzung führte. Als der aufgebrachte Soldat seinen Revolver zog und ihn auf Bashe-Dinam richtete, zögerte dieser keinen Augenblick. Mit einer geschickten Drehung seines Körpers und einer schnellen Griffbewegung blockierte er den Schlagbolzen des Revolvers. Mit einer weiteren schnellen Bewegung entriss er dem Soldaten die Waffe. Bevor dieser sich von seinem Schock erholen konnte, war Mashwe mit seinen Begleiterinnen verschwunden.
Bashe-Dinam war zweifellos eine Ausnahmeerscheinung. In der Folge entwickelten sich rege Diskussionen zwischen Feldenkrais und Bashe-Dinam. Während dieser Austausch einerseits die Überlegungen von Feldenkrais schärfte, schätzte Bashe-Dinam andererseits das systematische Herangehen an offene Fragen von Feldenkrais.
1931 veröffentlichte Moshe Feldenkrais sein Buch „Jiu-Jitsu and Selfdefence“ (Feldenkrais, 1931), in dem er das von ihm entdeckte Prinzip der „unbewussten Reaktion“ (später auch als „reflexartige Reaktion“ bekannt) erläuterte. Dieses Prinzip beruhte auf der Erkenntnis, dass Menschen vorprogrammierte Reaktionen auf Bedrohungen haben, die unbewusst ablaufen. Feldenkrais widmete zudem einen bedeutenden Teil seines Buches der Untersuchung der Bedeutung des Situationsbewusstseins bei Bedrohungen. Diese Erkenntnisse führten zur Entwicklung eines verbesserten Kampf- und Trainingsprogramms, das später als zentrales Element von Kapap und Krav-Maga dienen sollte. Kurz nach der Veröffentlichung seines Buches verließ Feldenkrais im Jahr 1931 Palästina in Richtung Frankreich, aus Angst vor einer Verhaftung durch die Briten aufgrund seiner Aktivitäten in der Hagana (Mor, 2018).
Nachdem Feldenkrais sein Engagement für die Hagana beendet hatte, übernahm Bashe-Dinam die Rolle des Ausbilders und Trainers. Als Trainer erwarb er sich schnell den Ruf eines aufmerksamen und besonnenen Lehrers. Seine Kampfkompetenz wurde zu diesem Zeitpunkt von niemandem mehr in Frage gestellt.
In den Jahren 1936-1939, als der arabische Aufstand in Palästina begann, strebte die jüdische Gemeinde neben der körperlichen und militärischen Grundausbildung auch eine effektivere Anwendung von Nahkampftechniken an, die entwickelt und trainiert werden sollten.
Die entscheidende Person in diesem Zusammenhang war Mashwe Bashe-Dinam. Er setzte sich dafür ein, dass die Hagana sich mit der Sportorganisation Hapoel zusammenschloss, um Kampfdisziplinen zur Selbstverteidigung zu erforschen und zu entwickeln. Eine Folge davon war die Transformation bekannter Nahkampftaktiken in eine eigenständige Kampfdisziplin namens Sport Magen („Verteidigungssport“), die Techniken aus dem Jujitsu, Boxen und Ringen sowie einige Ideen von Feldenkrais beinhaltete. Diese Methode wurde mit spezifischem Athletiktraining kombiniert, so dass sie neben ihrer defensiven Rolle auch als Sport betrieben wurde – beispielsweise von Jugendlichen in Schulen unter dem Titel Sport Shimushi („praktischer Sport“).
Gershon Kofler war eine führende Figur bei der Entwicklung und Verbreitung von Sport Magen in der Zeit von 1933 bis 1941 (Mor, 2018). In einem 1938 veröffentlichten Text mit dem Titel „Hachoger“ (Yafe, 1938) schrieb Kofler ein Kapitel über Sport Magen, in dem er die drei Unterdisziplinen von Sport Magen definierte: Jujitsu, Boxen und Ringen (Kofler, 1938).
Im selben Jahr veröffentlichte Mashwe Bashe-Dinam auch seine ersten Überlegungen zum Krav Maga (Bashe-Dinam, 1938). Er setzte sich dabei für eine friedliche und gewaltarme Gesellschaft ein und betrachtete das Erlernen von Kampfkunst in einem durchdachten und systematischen Trainingsumfeld als wichtige Voraussetzung dafür.
Im Verlauf seiner Tätigkeit als Ausbilder für die Hagana und ihre Spezialeinheit (Palmach) sowie aufgrund seiner Kampf- und Trainingserfahrungen veröffentlichte Bashe-Dinam weitere Ausführungen zur Gestaltung des Kampf- und Trainingssystems, das er Krav Maga nannte (Bashe-Dinam, 1943). Als Chef-Nachkampfausbilder der Palmach rekrutierte er einen frisch aus Bratislava eingewanderten Kämpfer. Sein Name war Imi Lichtenfeld. Lichtenfeld war ihm aufgrund seiner überdurchschnittlichen Kampfkompetenz aufgefallen. Während Bashe-Dinam sich vermehrt den Hintergründen von Gewalt und Training widmete, übergab er nach und nach die Ausbildungstätigkeit an Imi Lichtenfeld.
Nach der Deklaration der israelischen Unabhängigkeit im Jahr 1948 und der Gründung der Israeli Defense Forces (IDF) wurden die Ausbilder und Trainingscurricula der Hagana übernommen, einschließlich der von Bashe-Dinam entwickelten Systematiken sowie Lichtenfeld und Bashe-Dinam selbst (Mor, 2018). Während Lichtenfeld sich vor neuen Rekruten ins Rampenlicht stellte, setzte Bashe-Dinam seine Bemühungen zur Verbreitung des Systems im Hintergrund fort. Dabei kam er zu dem Schluss, dass der in den Straßen von Bratislava erprobte Lichtenfeld eine Schlüsselrolle spielen sollte. Diese Überlegungen legte er später in seinem Aufsatz „Spreading Technique and System“ (Bashe-Dinam, 1951) dar. Neben der Notwendigkeit einer Leitfigur betonte er, dass ein erfolgreiches Kampfsystem klare Gewissheiten durch ein umfassendes Technikrepertoire bieten müsse, um Menschen zu begeistern. Dabei erkannte er, dass sein Prinzip „Es könnte auch anders sein – nur nicht beliebig“ eines der Kernprobleme für den Wunsch der Menschen nach Gewissheit sein könnte, ein Dilemma, das er bis zu seinem Tod nicht auflösen konnte. Abschließend betonte er den Wert der aktiven Gestaltung der Kommunikation über das System. Das System müsse immer die Verbindung zum realen Kampf betonen, um dauerhaft anerkannt zu werden. Diese Erzählung solle aktiv von den Praktizierenden gestaltet werden. Kurz nach Veröffentlichung dieser Abhandlung verstarb Bashe-Dinam im Januar 1953 in Tel Aviv beim Einkaufen auf einem Straßenmarkt.
Im Anschluss wurde Imi Lichtenfeld – wie von Bashe-Dinam geplant – zur strahlenden Leitfigur der Öffentlichkeit des Krav Maga. Durch diesen Schachzug legte Bashe-Dinam den Grundstein für die Karriere eines der effektivsten Selbstverteidigungssysteme, das bis heute fortbesteht (Körner et al., 2019; Mor, 2019, 2021; Schaflechner, 2021). Auch nach dem Tod Bashe-Dinams zeigt sich seine Genialität. Bei einem Blick auf die Geschichte wird deutlich, dass es auch anders hätte kommen können – zum Beispiel hätten er selbst oder andere wie Moshe Feldenkrais, Gershon Kofler oder Markus Yehuda eine deutlich prominentere Position einnehmen können als der von der Öffentlichkeit gefeierte Lichtenfeld. Es hätte eben auch anders sein können – nur nicht beliebig.
Quellen
Bashe-Dinam, M. (1938). Protect and Survive: Principles of Self Defence.
Bashe-Dinam, M. (1943). Core of Practical Unarmed Combat and its Teaching. Tel Aviv.
Bashe-Dinam, M. (1951). Spreading Technique and System. Tel Aviv.
Feldenkrais, M. (1931). Jiu-Jitsu and Self-Defense. Tel Aviv: Toelet.
Kofler, G. (1938). Sport Magen (S. D. Yafe, Ed.). Tel Aviv: Hapoel.
Körner, S., Staller, M. S., & Mor, G. (2019). The Creation of Krav Maga – Fallstudie Deutschland. In A. Niehaus (Ed.), Abstracts of the 7th Annual Conference of the Committee for Martial Arts Studies in the German Association of Sport “Experiencing, Training and Thinking the Body in Martial Arts and Martial Sports”, November 15-17, 2018, Ghent, Belgium (p. 18). Journal of Martial Arts Research, 2(2).
Lichtenfeld, I., & Yanilov, E. (2001). Krav Maga – How to defend yourself against armed assault. Dekel Publishing House, Israel.
Mor, G. (2018). History and Singularity of Krav-Maga. The International Journal of the History of Sport, 35(15–16), 1622–1636. https://doi.org/10.1080/09523367.2019.1622523
Mor, G. (2019). The Case for the Recognition of Krav-Maga as Part of the Intangible Cultural Heritage of Israel. Open Journal of Social Sciences, 07(04), 294–303. https://doi.org/10.4236/jss.2019.74023
Mor, G. (2021). Motor Control Mechanisms and the Practice of Krav Maga—a Narrative Analysis. Central European Journal of Sport Sciences and Medicine, 35, 17–25. https://doi.org/10.18276/cej.2021.3-02
Schaflechner, J. (2021). Krav Maga: History, Representation, and Globalization of a Self-Defense System from Israel. Martial Arts Studies, 0(11), 110–121. https://doi.org/10.18573/mas.127
Staller, M. S. (2018). “Aus großer Kraft folgt große Verantwortung” – Die ethische Dimension des Selbstverteidigungssystems Krav Maga (F. Bockrath & K. Schulz, Eds.). In (pp. 57–68). Lehmans Media.
Yafe, S. D. (Ed.). (1938). Hachoger. Tel Aviv: Hapoel.